Dienstag, 27. Januar 2009

Lutherische Gemeinde: Kultur, Sozialarbeit, Verteidigung der Menschenrechte

Die kleine lutherische Gemeinde in Belém hat eine enorme Ausstrahlung. Zur ihrer Tanzgruppe Iacá gehören mehr als 80 junge Leute; sie treten mit ihrer Musikgruppe im ganzen Land auf und sind auch beim Weltsozialforum präsent. Ihre CDs verkaufen sich gut.

Wenige Strassen vom Gemeindezentrum entfernt, in der Favela Vila da Barca direkt am Fluss, unterhält die Gemeinde ein Sozialprojekt für Kinder und Jugendliche in drei verschiedenen Altersgruppen. Es geht um kulturelle Bildung in einem Viertel, das durch hohe Arbeitslosigkeit der Eltern, sexuelle Ausbeutung besonders der Kinder, Drogenhandel und Gewalt geprägt ist. Der Gemeinde ist es wichtig, die Kinder und Jugendlichen zu aktivieren und mit ihnen Perspektiven zu erarbeiten. Die Angebote nehmen die Situation der Kinder auf, z.B. in selbst entwickelten Theateraufführungen. Musikinstrumente, die aus Abfall gebaut werden, kommen dabei zum Einsatz.
Vom Staat und von der Kommune sieht sich die Gemeinde allerdings nicht unterstützt. Als vor vier Jahren die Favela umstrukturiert wurde, wurde auch das Gebäude der Gemeinde abgerissen und ein weit kleineres, unzureichendes Provisorium zugewiesen, in dem sich nun 50 Kinder und Jugendliche mit einer Müttergruppe einen Raum teilen. Für dieses Jahr wurde endlich eine neue Lösung in Aussicht gestellt.

Die Favela selbst ist auf Pfählen über den Fluss gebaut: ein Ensemble von kleinen Bretterhütten, die über Stege zugänglich sind, dicht an dicht, hin und wieder ein winziger Laden oder ein Minigarten dabei. Die Fäkalien gehen direkt aus dem Plumpsklo oder dem in der Hütte integrierten Schweinestall in den Fluss, ebenso der Müll, denn eine Müllabfuhr gibt für die Favela nicht. 90 % der 3000 Familien, die hier leben, haben ein Einkommen von unter 400 Reais ( ca. 130 Euro ). Die Alternative zur Vila da Barca scheint höchstens eine andere Favela zu sein.
Weil der Boden unter den Hütten zunehmend weggeschwemmt wurde, gelang es, Vila da Barca in das 2003 von der Regierung Lula begonnene Urbanisierungsprogramm aufzunehmen. Gegen die Bevölkerung, die eine „Revitalisierung“ der gewachsenen Struktur, also eine Befestigung des Pfahldorfes, wünschte, entschieden die politischen Stellen für den Bau von 136 Wohnungen in unmittelbarer Nähe, jeweils mit Bad und drei oder vier kleinen Zimmern in zweigeschossiger Bauweise. Gut ein Jahr nach ihrer Fertigstellung sieht man ihnen nicht mehr an, wie jung sie sind. Zur qualitativ schlechten Bauausführung kommt hinzu, dass bei starkem Regen – vom Hochwasser ganz zu schweigen – das Wasser durch die Betonböden drückt. Die permanente Feuchtigkeit ist nicht zu beheben. Die Gemeinde hat wegen nachgewiesener Korruption den nationalen Rechnungshof eingeschaltet, so dass der Weiterbau der neuen Siedlung eingestellt werden musste.

Doch die Gemeinde macht sich nicht nur zur Fürsprecherin der Menschen. Sie versucht ebenso, ein juristisches Grundwissen zu vermitteln, über Rechte aufzuklären, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. „Empowerment“ ist das Ziel, also Stärkung oder Befähigung. Cibele Kuss, die Pfarrerin der Gemeinde, ist seit einiger Zeit Ombudsfrau für die Einhaltung der Menschenrechte in Belém. Als Vorsitzende eines Teams von 15 Mitarbeitenden, die sowohl die Zivilgesellschaft wie auch das Amt für öffentliche Sicherheit vertreten, hält sie Kontakt zur Staatsanwaltschaft, kann alle Dokumente der monierten Fälle einsehen und Befragungen durchführen. Sie übergibt der EED-Delegation eine Dokumentation über Menschenrechtsverletzungen und Morde, die durch Polizisten begangen wurden. (siehe Blog Polizeigewalt und Straflosigkeit). Allein im Januar 2009 gab es neun Hinrichtungen; sieben Verfahren hat Cibele Kuss inzwischen eingeleitet. Die Angehörigen finden Zuflucht und Unterstützung in der Gemeinde, und sie haben endlich eine Hoffnung auf transparente, unter den Bedingungen und mit den Mitteln des Rechts geführte Strafverfahren gegen die Polizei.
Christine Busch

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