Freitag, 30. Januar 2009

Lula verteidigt vor dem Internationalen Rat seine Politik der Entwicklung mit der Brechstange

Der brasilianische Präsident spricht mit der Zivilgesellschaft, frei, ohne festen Fragekatalog. Heute, 30.1., drei Stunden lang mit dem Internationalen Rat des WSF. Manche seiner Präsidentenkollegen könnten sich eine Scheibe davon abschneiden – „Mit dem Gesicht zum Volke, nicht mit den Füssen in der Wolke“, wie Gerhard Schöne in der DDR gesungen hat. Leider ist Lula aber auch ein ausdauernder Langstreckenredner. Der ebenfalls anwesende Umweltminister kam nicht zu Wort – seine Position hätten wir gerne gehört.

Die Kluft zwischen dem Ex-Gewerkschafter Lula und dem Weltsozialforum ist größer geworden.

Drei Beispiele:

Wird Brasilien mit den anderen Entwicklungsländern solidarisch bleiben, wie wird Brasiliens Handelspolitik – es geht vor allem um Export landwirtschaftlicher Produkte und Brasilien neue Rolle als Erdölförderland – weiter gestaltet? Fragen von Kollegen und Kolleginnen aus Afrika und Lateinamerika. Jenseits aller verbalen Beteuerungen der Süd-Süd-Zusammenarbeit: Lula sieht die Rolle Brasiliens im erweiterten Kreis der G 8, im Weltsicherheitsrat, auf gleicher Ebene mit den USA, der EU, Russland, Japan. Die Entwicklungsländern könnten in Zukunft vom Erfahrungswissen Brasiliens profitieren: Wie entwickelt man Industrie, wie betreibt man exportorientierte Landwirtschaft, wie nutzt man die Ressourcen eines Landes richtig. Brasilien könne, anders als die alten Kolonialstaaten, die „absolut nichts“ für Afrika getan hätten, authentischer Entwicklungshilfe leisten und tue das auch schon – z.B. durch eine gut ausgestattete Forschungseinrichtung für tropische Landwirtschaft in Akkra (Ghana), die die Grüne Revolution in Afrika voranbringen solle.

Ob Brasiliens Politik der ländlichen Entwicklung zukunftsfähig sei?
Der Staatspräsident setzt auf Großprojekte. Er erklärt dem Rat die Bedeutung des großflächigen Anbaus von Soja und Baumwolle, von Infrastrukturmaßnahmen im Amazonas (Straßen, Staudämme, Erschließung von landwirtschaftlichen Flächen). Es sei vor allem wichtig, dass die Bevölkerung drei Mal am Tag zu essen habe – Reis, Bohnen und dass Arbeitsplätze entstünden. Die Ressourcen Brasiliens seien unerschöpflich – Land, Wasser, Bodenschätze.
Auf dem Forum und bei unseren Besuchen der Partner im Bundesstaat Pará haben wir etwas Anderes gehört. Da ist von der Umleitung von Flüssen (Rio San Francisco) die Rede, die der Industrie nutze, den Anwohnern aber das Wasser entziehen werde. Da setzen sich indigene Völker gegen den Bau von großen Stauseen in ihren Gebieten ein (Altamira). Da rechnen Bauernorganisationen vor, wie der großflächige Anbau von Soja letzte nutzbare Flächen auffrisst.
Auch wenn Manches geprüft werden muss – Umweltgesichtspunkte kommen im Programm Lula nicht vor.

Wie es mit der Medienfreiheit in Brasilien bestellt sei?
Die dahinter liegende Frage ist bedeutsam: In Brasilien sind Tausende von Lokalradios entstanden, die eine entscheidende Lücke im brasilianischen Mediensystem schließen könnten: Information – Information über die Angelegenheiten, die die Menschen in den Dörfern und den Favelas benötigen. Die Betreiber von Lokalradios stehen mit einem Fuß im Gefängnis, wie uns die EED-Fachkraft Andreas Behn (Rio de Janeiro) berichtet: Genehmigungen könnten sieben bis acht Jahre dauern; ob sie überhaupt erteilt werden, sei nicht sicher; bei evangelikalen Sendern ginge es leichter und schneller.
Lula hat es einer seiner Mitarbeiterinnen überlassen, diese Frage zu beantworten. Was tun Politiker in solchen Fällen? Sie verweisen auf die bestehende Gesetzeslage, die alles bestens regle. Ein wichtiges Anliegen sei freilich noch zu verfolgen: Betreiber illegaler Radios sollten nicht mehr ins Gefängnis wandern, sondern mit einer Geldstrafe davon kommen.

Notiz am Rande: Die Organisation der Landlosen in Brasilien, da Movimento Sem Terra (MST) hat sich gestern mit den Staatspräsidenten Paraguays, Boliviens, Ecuadors und Venezuelas in geschlossener Runde getroffen. Lula war vom MST nicht eingeladen, seine vier Kollegen haben das nachgeholt. Der Staatspräsident hat „aus terminlichen Gründen“ abgesagt.

Jürgen Reichel

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